Frostige Realitäten.

Es war ein kalter Jännermorgen. Wir saßen im Café und redeten über dies und das. Sie erzählte mir, dass sie nun ihre Wohnung gekündigt hätte und in drei Monaten schon auf dem Weg nach Berlin sei. Ich seufzte. Es war nicht nur der halszuschnürende Zustand, dass ich die wohl treueste Freundin an Berlin verlor, sondern obendrein die Tatsache, dass sie nun meinen Traum lebte. Es war nie so sehr ihr Wunsch gewesen, als meiner. Nur tat ich es einfach nie.

„Ich will ja auch nach Berlin gehen, gleich nach meinem Abschluss,“ platzte es aus mir heraus. Sie sah mich irritiert an. Für mich völlig aus dem Zusammenhang gerissen fragte sie kopfschüttelnd: „Was ist deine langfristige Zukunftsplanung?“ Ich verstand nicht. Warum fragte sie mich so etwas? Sie war doch diejenige, die genauso wenig einen Plan hatte, was sie nach ihrem Studium machen wollte. „Ich habe absolut keinen“, antwortete ich wahrheitsgemäß. Sie lehnte sich nach vor, sah mich durchdringend an und versuchte mir zu erklären: „Wenn du jetzt nach Berlin gehst, dann kommst du entweder gar nicht mehr zurück, oder du wirst unglücklich darüber sein, dass du wieder zurück musst.“ Es gab mir zu denken. Wortfetzen, wie „ich will ja nur kurz die weite Welt schnuppern“ und „ich komm ja artig wieder“ schwirren mir im Kopf, um mich zu verteidigen. Ich wich zurück. Sie hatte ja Recht. „Es wäre ja nur für ein halbes Jahr“ gab ich kleinlaut von mir, „wenn ich es jetzt nicht mache, werde ich es ewig bereuen.“ Ich wollte mich einfach nicht in 40 Jahren in der Position sehen, meinen Enkelkindern (sofern ich je welche haben sollte)  zu erklären, dass ich gerne dieses und dieses gemacht hätte und die Welt bereist und dort und dort gelebt hätte, aber dass ich es einfach nicht tun konnte, der Liebe wegen. Ich würde dann wohl noch immer nicht diesen Drang befriedigt haben, unbedingt einmal in Berlin wohnen zu wollen.
Nach diesem Gespräch dachte ich bei mir, dass sie Unrecht hatte. Sie sagte ja auch, eine halbjährige Fernbeziehung kann eine Beziehung zerstören. Ich will das alles einfach nicht hören.

Ein paar Tage später unterhielt ich mich mit einer anderen Freundin über die gleiche Thematik. Ich hatte sie immer bewundert, für ihre Offenheit der Welt gegenüber. Sie konnte einfach ein Jahr nach Frankreich gehen, danach nach Sibirien, dann nach Russland. Allein. Einfach so. Sie lächelte und sagte: „Wir glauben immer, wir können alles haben, aber das stimmt nicht. Wir müssen immer auf eines verzichten.“ Sie blickte traurig zur Seite. Dann stand sie auf und ging. Dann verstand ich. Sie hatte immer alles vor Beziehungen gestellt. Ihr Studium. Ihre Reisen. Sie war einfach frei, alles zu tun, denn sie müsste nie jemanden vermissen. Sie hatte ihre Freunde auf der ganzen Welt und war es gewohnt, den ein oder anderen längere Zeit nicht zu sehen.

Es war die Zeit gekommen, an der alle meine Freunde in verschiedenste Richtungen davon schwirren und ich alleine in unserer Stadt zurückbleibe. So hatte ich mir das nicht gedacht. Wollte nicht ich einst in die große weite Welt hinaus, ihren herrlichen Parfum inhalieren und gut duftend mit vielen Erzählungen wieder nach Hause kommen?
Nach meinem Abschluss stünde mir wieder einmal die Welt offen und würde mich mit ihren Angeboten überfordern Ich hätte dann erneut tausend Ausreden, mein vertrautes Nest wieder nicht zu verlassen. Diesmal hält mich viel. Es hält mich stark. Ich will diese Beziehung für nichts auf der Welt aufs Spiel setzen. Und so kann man sich sogar in seinem perfekten Glück gefangen sehen.

Wie paradox.

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